Autorin: Dorothee Wierling | Rezensiert von: Franziska Sörgel
Nachdem ich in der letzten Ausgabe den Band „1913“ von Florian Illies als inhaltlich wenig ergiebige Unterlage für das anstehende Weltkriegs-Jubiläumsjahr bezeichnet habe, machte ich mich
auf, um in dieser Monatsblatt-Ausgabe einen besseren Vorschlag präsentieren zu können.
Unter dem schlicht klingenden Titel „Eine Familie im Krieg“ wird uns das „Leben, Sterben und Schreiben“ der Familie Braun und Vogelstein aus Berlin sehr leicht und doch so intensiv erzählt, als
wären es unsere engsten Nachbarn. Ich denke, wir sehen uns das Projekt am besten von vier verschiedenen Seiten aus an:
Zuerst werfen wir einen Blick auf die Autorin. Frau Prof. Dr. Dorothee Wierling ist eine sehr produktive und anerkannte Historikerin, die derzeit als stellvertretende Direktorin die
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg leitet. Ihrem Umgang mit Zeitdokumenten können wir daher uneingeschränkt trauen. Aber ein Buch mit über 400 Seiten kann auch lang werden, wenn der
Erzähler langweilig ist, doch auch in diesem Punkt können wir Frau Wierling vertrauen. Sie selbst erzählt die Geschichte flüssig, klar aufgebaut und mit klugen Ein- und Ausblicken entlang der
Weltkriegs- und Familiengeschichte von 1914 bis 1918. Die Tagebucheinträge und Briefzitate der Brauns und Vogelsteins dienen ihr nur als Stütze und sind mit sehr leichter Hand in den Erzählfluss
eingebaut. Vor staubiger Archivfresserei muss man sich als Leser definitiv nicht fürchten.
Der zweite Blick richtet sich auf die Familien Braun und Vogelstein. Beides interessante Familien und zu ihrer Zeit keine Unbekannten. Vater Heinrich Braun war aktiver Sozialdemokrat und
Herausgeber diverser Zeitschriften. Mutter Lily, eine engagierte Schriftstellerin und Publizistin, wurzelt als Offizierstochter mit ihrem Stammbaum im Haus Bonaparte und mit ihren geistigen
Wurzeln mitten im klassischen Weimar. Im letzten Kapitel bleibt von dieser ganzen Klassik gerade noch „der Goethering“ übrig, den der „Titan“ einst Lilys Oma persönlich schenkte. Doch Lily trägt
ihn nicht in diesem letzten Kapitel, sondern Julie (Braun-)Vogelstein, Heinrichs Geliebte, die in einer gleichzeitig bizarren und sehr stabilen Position mit der Familie lebt und mit allen
Mitgliedern sehr ausführliche und persönliche Korrespondenzen pflegt. Nach Lilys Tod heiratet Julie ganz bürgerlich ihren Heinrich und kümmert sich um die Herausgabe all der Briefe und Schriften
der Familie. Als Kunst- und Geisteswissenschaftlerin ist sie dazu auch prädestiniert. Interessant als Persönlichkeit ist sie auf jeden Fall zum einen wegen ihrer ausgesprochen dichten und
klassischen Bildung und zum anderen wegen ihres familiären Hintergrundes als Rabbinerstochter und Schwester glücklicher Unternehmer in New York. Den Vierten im Bunde, Sohn Otto von Lily und
Heinrich, findet man bei Wikipdia als „Lyriker“ beschrieben, aber das ist er so sehr wie wir alle, die zu Oma Elsbeths Geburtstag einmal ein paar Verse probiert haben. In Wirklichkeit stirbt er
mit 19 Jahren an der Somme und wie es dazu kommt, erleben wir en gros und en détail mit als Teil des Brief- und Kommentargeflechts zwischen den Vieren.
Von der dritten Seite aus sehen wir den Krieg. Wir sehen ihn ab Mai 1914 von vorne, aus den Zeitungen und Stimmungsbildern. Wir sehen ihn in Zeitdokumenten; themenverwandten Buchhinweisen sowie
in den historischen Kartenabbildungen zum Frontverlauf. Wir sehen ihn in Nahaufnahme in Ottos Feldpost, seinen Stimmungsschwankungen und anschaulichen Schilderungen vom Lagerleben in den
Stellungen, wo am Abend das geschickte Werfen von Handgranaten mit Holzattrappen trainiert wird und jungenhafte Patrouillenübungen stattfinden – zunächst in Russland, später in Frankreich.
Das Besondere an der Architektur dieses Buches ist der „4+-Blickwinkel“: Mutter, Vater, Freundin, Soldatenkind plus die allwissende Erzählerin aus dem Jahre 2013 weben aus ihren Persönlichkeiten
und zahlreichen historischen Details ein unglaublich dichtes Gewebe, das doppelt hält, da die Schreiber als hochgebildete Intellektuelle alle ihre Meinungen an historischen Quellen spiegeln. Die
emotionale Facette des Buches entrinnt dem herzzerreißenden Vertrauen, mit dem sich die Brauns und Vogelsteins an ihre Goethe- und George-Welt hängen, als würde sie die Literatur schützen können.
„.. und das wird das Schicksal nicht wollen, mein Gefäß zu zerschlagen“ – so Otto im März 1918. Mutter Lily trägt dazu noch handfeste Erfahrungen aus ihrem Generals-Elternhaus mit (Häng‘ die
Regenweste sofort auf, sonst wird sie brüchig…). Wer also entschlossen ist, sich zum Weltkriegsjahr eine wirklich hohe Dosis Zeitgeschichte zu genehmigen, der ist mit diesen 400 Seiten gut
bedient.
An dieser Stelle sind wir an der vierten Perspektive angekommen, dem heutigen Blick auf die Zeit von 1914 bis 1918, ihre Umbrüche und Kontinuitäten. Wie sich nähern und was tun? Bei aller
Verfilmerei und Suche nach neuen zeitgemäßen und leichtverdaulichen Reviews und Events möchte ich den Blick an dieser Stelle auf die Arbeit des Wallstein Verlages lenken. Wer den historischen
Romanen nicht traut, weil die Damen immer eine Spur zu rassig und die Männer eine Spur zu schlagfertig sind, dem sei ein Stöbern auf der Verlagsseite empfohlen: www.wallstein-verlag.de. Mit den
Beinen auf Fakten, den Händen in der Forschung und einer guten Geschichte im Kopf – so könnte man das Motto für das Gesamtprogramm beschreiben. Verwachsen mit einer langen Reihe hochrangiger
Kooperationspartnern und Institutionen wie dem Deutschen Literaturarchiv zum Beispiel und dennoch buchhändlerisch an den Leser denkend und nicht zuerst ans Bibliotheksregal, gehört dieser Verlag
definitiv zu einer „schützenswerten Art“ deutscher Kulturvermittlung.
Probiert es doch einmal aus!
Eure
Franziska Sörgel
Dorothee Wierling
Eine Familie im Krieg
Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918
Wallstein, Göttingen, 2013
ISBN 978-3-8353-1301-9
24,90 €