Der lange Bremsweg der Seele

Die hellen Tage

Autorin: Zsuzsa Bánk | Rezensiert von: Franziska Sörgel

Bunte Röcke und ein schiefes kleines Haus ohne Heizung – ay mamita! Spielt dieser Roman in Bolivien? Nein, er spielt in den 1960er Jahren in einer deutschen Kleinstadt bei Heidelberg und die Hauptperson Évi ist eine ungarische Zirkusartistin, die mit ihrer Tochter Aya am Rand der Stadt und der Gesellschaft landet und immer mehr zum Mittelpunkt wird. Trotzdem, nicht nur durch das Haus ohne Heizung schlägt dieses Buch Brücken bis nach Bolivien und darum möchte ich es Euch gerne vorstellen. Außerdem ist es ein Bestseller und eines der großen Sehnsuchtsbücher des deutschen Lesepublikums.

Warum finden es alle zum Umfallen schön, einer ausländisch wirkenden Frau zuzusehen, wie sie von der ersten bis zur letzten Buchseite in einem schiefen kleinen Haus ohne Heizung lebt? Nun, zunächst muss man so einer Bude schon mit einer ungewöhnlich hohen Dosis erzählerischem Zaubers dazu verhelfen zu einem Sehnsuchtsort zu werden. Und das kann Zsuzsa Bánk. Sie ist eine sehr gute Augenblicksfängerin, genauso wie Herta Müller und Joanna Bator. Joanna Bator mag dem einen oder anderen zu jung und sprudelig sein und Herta Müller zu institutionell, Zsuzsa Bánk trifft sehr gut die Mitte. Langsam und Wort für Wort wie getrocknete Blüten in ein Herbarium klebt sie Handbewegungen und Stimmungen ihrer Figuren nebeneinander auf und dies auf eine sehr eigene und herzvolle Weise. Manchmal wurden mir ihre Wiederholungen zu viel, doch als Leser@ über 18 darf man solche Längen überfliegen.

Der Grund, warum ich die drei sehr verschiedenen Autorinnen hier gemeinsam nenne, ist ihre (Sprach-)heimat im osteuropäischen Raum. Zsuzsa Bánk z. B. stammt aus Ungarn, sie wuchs zweisprachig in Deutschland auf und lebt in Frankfurt. Meiner persönlichen Meinung nach ist es kein Zufall, dass diese Sprachmischung in Deutschland so hochverkäuflich ist. Wer mit seiner Muttersprache täglich elegische Metaphorik aufs Brot geschmiert bekam, schüttelt später leichter Pralinen aus dem Ärmel, das ist eine Plattitüde, aber ich stehe dazu. Wendungen wie „Die Wolken sperrten den Himmel ein“ klingen nicht nach stundenlangem Grübeln über literweisem Kaffee sondern nach einem kurzen Weg zu einer Mama, die mit der kleinen Zsuzsa aus dem Fenster sah. Auf Deutsche des 21. Jahrhunderts, die sich bis auf die fünfte Stelle hinter dem Komma hoffnungslos in ihre historischen Sprachbrüche verwickelt haben, muss diese Herzbildersprache unerreichbar klingen. Und ich kann Euch sagen: Der deutsche Mutter-und-Kind-Kontext baut sich heute definitiv nicht zu solchen poetischen Wellen auf. Das Maximum im Alltag ist das witzige Wortspiel – zum Bleistift. Wer mit einem Bein im Spanischen lebt, hat in dieser Erzählkategorie definitiv einen Vorsprung.

Ähnlich wie das Haus ohne Heizung hält die Handlung übrigens auch keine idyllischen Bonbons bereit sondern sehr viel Leid und Schicksalsschläge. Um das schlagende Mutter-Kind-Herz Évi und Aja gruppieren sich zwei weitere Kinder und ihre Familien, Karl und Seri, die Ich-Erzählerin. Sie erzählt vom Großwerden der Drei und vom allmählichen Aufdecken der seelischen Abschürfungen sowohl der Wohlstandskinder- und Mütter als auch der Zirkusfamilie, die doch mit ihren leckeren Kuchen, den Kerzen im Fenster und der klaren Fürsorge füreinander immer das verlässliche Zentrum der Menschlichkeit war.

Und doch kommt der Trost. Er entspringt – ihr ahnt es – dem Haus ohne Heizung und wir dürfen ihm bei der Arbeit zusehen, die ganz einfach aussieht. So, als könnten wir es sogar auch. Aber es dauert lange, über all die 540 Seiten des Romans verläuft der lange Bremsweg der Psyche der drei Kinder, ihrer Mütter und teilweise auch ihrer Väter. Man fühlt sich an Ovids Metamorphosen erinnert, fühlt mit wie bei Daphne, die plötzlich im Lauf in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. Wie sie ungläubig die Zweiglein aus ihrer Hüfte betrachtet und die neuen Geräusche ihrer Haut bestaunt. Aus dieser Perspektive sehen wir die Dramen in den „hellen Tagen“ und merken: Aus dieser Nähe und mit dieser behutsamen Allmählichkeit wird jede Katastrophe erzählbar und jedes Drama pendelt sich aus. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, sich Zeit fürs Leben zu nehmen – noch so ein bolivianischer Brückenschlag. Genauso wie: Dem Leser die Welt zu zeigen und nicht zu erklären. Das fiel mir auf in dem häufigen Gebrauch des Adverbs „anders“. Wann immer einer Figur etwas passiert, etwas Gutes, wenn sie von einer Reise wiederkommt, oder auch etwas Schlechtes, wenn sie lange krank war oder sich Dinge anders entwickelt haben als erwartet, dann betreten sie immer zuerst Èvis Haus, klinken das schiefe Gartentor auf und laufen über die losen Gartenplatten bis zu den drei Stufen vor der Haustür. Aber sie tun es „anders“. Über ein Dutzendmal klinkt jemand die Gartentür „anders“ auf und läuft „anders“ über den Gartenweg. Als gute deutsche Leserin war ich zunächst ordnungsgemäß empört. „Wie denn anders?“ und wollte instinktiv eine präzisere Beschreibung einfordern – schließlich hatte ich für diese Information bezahlt. Doch natürlich würde es nicht helfen, wenn ich die Wörter der Gartenszene der Größe nach sortieren könnte und auch nicht die deutsche Texterwartung, nach der jedes Wort ein Nagel ist, der, einmal eingeschlagen, für alle Zeiten schwere Gewichte aushält. In dieser Tradition steht Frau Bánks nicht. Ihre Wörter sind wie Honig, der die Handlungen und die Charaktere umfließt. Nichts kann sich daran festalten, aber Vieles darin auflösen. Mit diesem Honig ihrer Worte und einem Lächeln lässt die Erzählerin die Handlung aufgehen wie einen Kuchenteig und warm und schwer und würzig werden. Bis ein Bestseller daraus geworden ist und ein Sehnsuchtsroman für das deutsche Lesepublikum. Sagen wir fairerweise – für die Ü40-Leser, Jüngere werden sich in der Tat langweilen.

Mit freundlichen Grüßen
Franziska Sörgel


 Zsuzsa Bánk | Die hellen Tage
S. Fischer, Frankfurt, 2012
ISBN 978-3-596-18437-8
9,99 €